der Tod

Ich wollte nur ein glückliches und einfaches Leben führen. Doch mit der Diagnose HIV bekam ich den Tod praktisch attestiert. Zumindest fühlte es sich damals genau so an. Ich war ein lebender Toter. Es hat mich viel Kraft und Zeit gekostet zu erkennen, dass eigentlich alle Menschen lebende Tote waren. Keiner kennt sein Leben im voraus. Keiner weiß, wie lange er lebt. Und keiner kann die Zukunft vorhersagen und abschätzen, wann er stirbt.

Ich dachte, mit HIV könnte ich vorhersagen, wie lange ich noch ungefähr lebe. Aber hey, ich lebe immer noch.

Gut, ich bin sehr hart in meinem Leben, was gewisse Grundsätze angeht: Ich rauche nicht, trinke keinen Alkohol, verzichte auf Softdrinks wie Cola, Fanta oder RedBull, ich esse kaum Fleisch und verzichte so gut es geht auf Milch und Milchprodukte, ich gehe regelmäßig ins Bett und ich kaue keine Kaugummis, weil diese giftige Stoffe enthalten. Meine Zahnpasta ist frei von Fluorid, mein essen manchmal sogar Bio und meine Laune ist eigentlich immer von einem trockenen, zynischen Humor untermalt.

Jedenfalls habe ich mich in meinem Leben immer sehr unter Stress gesetzt, weil ich unbedingt etwas aus mir machen wollte. Nach der Schule wollte ich bloß nichts falsch machen und eine Lehre beginnen, die mir dann doch nicht gefällt und die ich womöglich abbrechen würde. So begann ich in allerlei Berufen zu arbeiten. Schuhverkäufer, Kurierdienstfahrer, Landschaftsgärtner, Barkeeper, Verkäufer in der Tankstelle und manches mehr. Auch schon während meiner Schulzeit habe ich neben nachbarschaftlichem Rasenmähen in einer Metall-Maschinenfabrik gearbeitet oder in einer Tütenfabrik Plastik-Tüten abgepackt und verkaufsfertig gemacht.

Seit meiner HIV-Diagnose bin ich wesentlich entspannter. Ich weiß, mein Leben ist verkackt und damit muss ich klar kommen. Und ich habe mir bewusst gemacht, dass das Leben nunmal nicht von Dauer ist. Also ich habe nicht nur diesen Spruch nachgeplappert, sondern es wirklich verinnerlicht: Das Leben ist nicht von Dauer.

Dazu habe ich gelernt, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Jeder Tag zählt. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich als Student an Geldmangel gelitten habe, nur wegen der Hoffnung irgendwann vielleicht einmal einen gut bezahlten Job zu haben, so habe ich mich als Hartz-4-Empfänger regelrecht wohl gefühlt.

Als Student bekam ich ja kein Bafög und andere Sozialleistungen gab es auch nicht. So habe ich mir damals immer einen 10kg Reis-Sack gekauft, wovon ich mich dann ernährt habe. So gab es einmal Curry-Reis, am nächsten Tag Reis mit Ketchup uns so weiter. Diese Zeit war für mich sehr lehrreich und hart.

Meine finanziellen Nöte versuchte ich damals so gut es ging zu verheimlichen. Ich konnte meine Sorgen nicht wirklich mit Mitkommilitonen besprechen. Ich lebte in einer anderen Welt, ein seltsames Leben. Ich beneidete die Menschen, die sich sorgenfrei auf ihr Studium konzentrieren konnten. Das wollte ich doch auch. Doch die massive Geldnot raubte mir nachts den erholsamen Schlaf und brachte mich tagsüber in die Situation, dass ich eigentlich studieren wollte, aber in Wirklichkeit als Bierzapfer und Küchenhilfe mein Geld verdiente.

Zum ersten Mal Hartz-4 zu bekommen war für mich wie Urlaub. Der Stress ums Überleben war weg. Es war für das Notwendigste gesorgt. Gut, ich musste den Formularkrieg mit dem Amt aufnehmen und ich wurde in viele Maßnahmen geschickt, wo man mir beibrachte, wie eine Bewerbung auszusehen hat. In einem Kurs wurde einem beigebracht, dass der Lebenslauf von vorne nach hinten aufsteigend sein muss, im nächsten Kurs war es wieder genau anders herum. Es war eine abwechslungsreiche Zeit. Aber für Unterkunft und Essen war gesorgt.

Als ich in einem Kurs in Waiblingen war, bemerkte ein Dozent, dass ich ja Mediengestalter war und vermittelte mich gleich als Praktikant an eine Firma in Winterbach. Dort sollte ich den Internet-Auftritt übernehmen, als Praktikant. Diese Firma wusste, wie man spart. Sie stellten mir bei guter Arbeit als Praktikant eine Vollzeitstelle in Aussicht. In dieser Vollzeitstelle sollte ich 850,- Euro im Monat verdienen. Also ich hätte dann Stress auf Arbeit gehabt und noch Stress auf dem Amt, weil ich ja für die Miete noch ergänzend Hartz-4 hätte beantragen müssen. Für mich war Hartz-4 schon ein Vollzeitjob. Welch ein traumhaftes Job-Angebot.

Ich traf dort auf einen anderen Praktikanten, der sich mit dem Thema Internet-Auftritt schon länger befasste. Seine Praktikumszeit war aber bald zu Ende. Er verriet mir, dass die gesamte Software, die er benutzte, von ihm sei und es sich um eine gecrackte Version handele. Diese Software würde er am Ende seines Praktikums wieder löschen. Ich musste noch einige Tage länger dort sein, doch ohne Software konnte auch ich nicht arbeiten. Und so entschied ich mich, mich von einem Arzt meines Vertrauens krank schreiben zu lassen. Mit einem selbstgedichteten Reim meldete ich mich von meiner Praktikumsstelle ab. Ich wusste, man würde mir die Echtheit meiner Krankheit eh nicht glauben, aber alles musste eben seine Richtigkeit haben.

In Waiblingen, wo ich die Fortbildungsmaßnahme hatte, hat man mich nach meiner kurzen Krankheit während des Praktikums schon erwartet. Der Dozent war über meine Krankmeldung erbost und bat mich zu sich ins Büro. Dort war noch ein weiterer Dozent anwesend und zufällig stand auch noch ein Dozent in der offenen Türe. Der Dozent begann, dass ich mit meiner Krankheit den Praktikumsplatz und damit auch die Chance auf eine Festanstellung leider verspielt hätte. Dann fuhr er fort, dass er mir meinen Volksfest-Reim einfach nicht abnehme. Ich sagte kess „das müssen Sie auch nicht.“ Darauf hin bekam er einen cholerischen Anfall und schrie „Jetzt auch noch frech werden!“

Ich war damals noch sportlich und blieb ruhig und entspannt, was den Dozenten noch wütender machte. Es war ein schöner Moment.

Jedenfalls glaube ich:

Wir sind alle das Produkt unserer Umwelt und unserer Vorgeschichte.

Wir können uns dessen nicht entziehen. Wir müssen das akzeptieren. Ein Entfliehen ist schlicht nicht möglich. Damit muss man sich abfinden. Und damit habe ich mich auch abgefunden.

Ein wichtiges Ereignis – muss ich noch irgendwo anders einfügen:

Als ich mal wieder arbeitslos war, half ich einem Bekannten, ich weiß nicht mehr, wobei. Da meinte der Bekannte, dass ich doch auch mal wieder steuerpflichtig arbeiten solle und der Gesellschaft etwas zurückgeben müsse. Ich meinte „Aber ich gebe doch der Gesellschaft etwas zurück. Ich helfe Dir!“ Daraufhin meinte er, ich müsse meine Pflicht erfüllen und der Gesellschaft einen Beitrag leisten.

Daraufhin entgegnete ich „Ich leiste einen Beitrag. Es gibt so viele, die sich über ihren Job definieren. Für all jene machen ich platz. Ich verzichte freiwillig (Kampflos ohne jegliches Mobbing). Dazu ist Arbeit ein Rohstoff, von welchem es nur eine begrenzte Menge gibt. Wie asozial ist es da, wenn man so viel Arbeit an sich reißt, wie Du es tust. Arbeit muss gerecht verteilt werden.“

Mein Bekannter arbeitete viel und hart. Er arbeitete für zwei. Diese Aussage hat ihm die Sprache verschlagen. Er war platt. Ich war zu krass. Das wollte ich nicht. Aber mein Standpunkt ist eindeutig: Wer für einen Job Kollegen in die Pfanne haut, ist unwürdig. Mobbing zur Sicherung eines Arbeitsplatzes ist ein Tabu. Bevor ich meinen hoffentlich guten Charakter verkaufe, nehme ich es lieber auf mich, arbeitslos zu sein.