Gesunde in Kranke

Dieses Zitat hat mich lange beschäftigt. Ich wollte es unbedingt im Kontext stehen sehen. Weil es Ihnen sicher genauso geht, folgt hier ein Auszug aus dem Deutschen Ärzteblatt (2002):

Aber wo die unsichtbare Hand des Marktes regiert, darf niemand so recht steuern, maßt sich daher auch niemand die Autorität der Verantwortung an, egal wie katastrophal das Ergebnis für die Gesundheit ist.

  1. Seit Rechtsanwälte, Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter von der gesetzlichen Betreuung (vormals Vormundschaft) leben können, hat sich in wenigen Jahren die Zahl der Betreuten auf etwa eine Million mehr als verdoppelt. Der neue und dynamische Berufsverband will natürlich weiter expandieren, hält daher sechs Millionen Bundesbürger für betreuungsbedürftig. Deshalb kann es nicht verwundern, dass man von der vornehmsten gesetzlichen Aufgabe der Betreuer, nämlich Betreuungen überflüssig zu machen, fast nichts spürt.
  2. Der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte. Das Ziel muss die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um „gesund leben“ zu können. Das gelingt im Bereich der körperlichen Erkrankungen schon recht gut, im Bereich der psychischen Störungen aber noch besser, zumal es keinen Mangel an Theorien gibt, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind. Fragwürdig ist die analoge Übertragung des Krankheitsbegriffs vom Körperlichen auf das Psychische. Einige Beispiele:
    a) Das Sinnesorgan Angst, zuständig für die Signalisierung noch unklarer Bedrohungen, ist zwar unangenehm, jedoch vital notwendig und daher kerngesund; nur am falschen Umgang mit Angst (zum Beispiel Abwehr, Verdrängung) kann man erkranken. In den 70er- und 80er-Jahren jedoch hat man die Angst als Marktnische erkannt und etliche neue, selbstständige Krankheitseinheiten konstruiert – mit vielen wunderbaren Heilungsmöglichkeiten für die dafür dankbaren Patienten.
    b) Seit den 90er-Jahren ist die Depression weltweit als unzureichend vermarktet erkannt. Eine Art Rasterfahndung nach unentdeckten Depressiven, wovon immer einige Menschen real profitieren, die meisten jedoch durch zusätzliche Etikettierung in ihrer Vitalität Schaden nehmen, hat zum Beispiel in den USA dazu geführt, dass sich von 1987 bis 1997 die Zahl der wegen Depression Behandelten von 1,7 auf 6,3 Millionen fast vervierfacht hat; entscheidend dafür war die suggestive Aufklärungskampagne und aggressive Werbung für Antidepressiva.
    c) Inzwischen hat die Psychotrauma-Therapie den imperialistischen Anspruch, möglichst alle Krisen durch Traumatisierung (früheres Gewalterlebnis, Missbrauch, Misshandlung) zu erklären und zu therapieren. Auch hiervon können wenige profitieren, während die Allgemeinheit durch potenziell lebenslängliche punktuelle Aufmerksamkeitsfixierung geschädigt wird; selbstvergessenes Weggegebensein ist jetzt sehr erschwert. Bei jeder Katastrophe sind heute Opfer wie Helfer den öffentlichkeitswirksamen oder verstehenswütigen Psychoattacken fast zwangsweise, weil wehrlos ausgesetzt. Nach dem Erfurter Amoklauf blieb einer Schülerin die Äußerung vorbehalten, das Schrecklichste seien eigentlich die Psychologen gewesen, die das Alleinsein mit sich selbst und/oder mit Freunden/Angehörigen mit den raffiniertesten Tricks zu verhindern versucht hätten. Dies öffentlich zu sagen bedeutet heute Mut, Zivilcourage.
    d) Ein Selbstversuch, den jeder wiederholen kann: Ich habe zwei Jahre lang aus zwei überregionalen Zeitungen alle Berichte über Forschungen zur Häufigkeit psychischer Störungen (zum Beispiel Angst, Depression, Essstörung, Süchte, Schlaflosigkeit, Traumata) gesammelt: Die Addition der Zahlen ergab, dass jeder Bundesbürger mehrfach behandlungsbedürftig ist. Die meist von bekannten Professoren stammenden Berichte versuchten in der Regel, dem Leser zunächst ein Erschrecken über den hohen Prozentsatz der jeweiligen Einzelstörungen zu suggerieren, um ihn dann wieder zu entlasten, weil es heute dagegen die zauberhaftesten Heilmethoden gäbe, fast immer in der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie; denn hier verspricht die Kooperation der Konkurrenten den größten Gewinn.
    Fitness und Wellness – das Leben wird prozessualisiert als Vitalisierung ohne Ende.
  3. Der künftig expansivste Markt dürfte der der Prävention sein – von den Experten der gesunden Ernährung über das Jogging bis zu den Fitness- und Wellness-Zentren, Agenturen, die das Leben der Menschen mit wechselnden Schwerpunkten begleiten und mit deren Hilfe sie ihre Gesundheit infinitesimal optimieren, in „Gesundheits-Bewusste“ umerzogen werden sollen. Das Leben wird prozessualisiert als Vitalisierung ohne Ende, wobei nur eins zu vermeiden ist: dass ein Mensch sich zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich für vital hält.

Deutsches Ärzteblatt 2002; 99: A 2462–2466 [Heft 38]
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner
Nissenstraße 3, 20251 Hamburg

Eine alte Medizinerweisheit