Zeitarbeit

Im Juni 2011 landete ich in einer Personalpartner GmbH, also einer Zeitarbeitsfirma in Waiblingen. Dort bekam ich einen Stundenlohn von 7,79 Euro.

Das JobCenter hatte mich dazu gebracht, ein derartiges Arbeitsverhältnis einzugehen, welches mir keine wirklichen Aufstiegschancen bot, dafür aber als Ausgleich nur sehr wenig Geld. Der Verdienst war ungewiss, war er doch von der Auftragslage abhängig, also davon, ob es genug Interessenten für Zeitarbeiter gab. Einzig die ständige Abrufbereitschaft war mir gewiss.

Es war ein Arbeitsverhältnis, welches kein Mensch freiwillig eingehen würde. Ich wollte aber die Erfahrung als Zeitarbeiter machen, damit ich sehen konnte, wovon man in den Nachrichten so sprach, wenn man das Wort „Zeitarbeit“ in den Mund nahm. So könnte ich irgendwann einmal aus erster Hand von der Zeitarbeit erzählen, wie jetzt eben hier.

Ich landete zuerst in einer Plastik-Spritzguss-Firma in Fellbach. Dort wurde Schichtarbeit geleistet. Es gab wenige Oberaufseher, also Menschen, die danach schauten, dass die Leute auch richtig arbeiteten. Dann gab es einige werkseigene Maschinen-Bediener, die die Maschinen einstellten und bedienten. Und dann gab es die vielen Zeitarbeiter, die die frisch gespritzten Teile entgrateten und in Kartons einräumten, diese Kartons verschlossen und auf Euro-Paletten stapelten. Ich war einer dieser Zeitarbeiter.

Uns war das Benutzen des Pausenraumes eigentlich nicht gestattet und auch sonst galten für uns gesonderte Rechte. Das Schild „Zutritt nur für Mitarbeiter“ brachte mich zum ersten Mal ins Zweifeln: war ich wirklich ein Mitarbeiter dieser Firma? Ich war doch bei jener Zeitarbeits-Firma angestellt, also Externer…

Beim ersten Mal, als ich die Plastik-Spritzguss-Firma betrat, fiel mir der markante Geruch auf. Es roch penetrant nach geschmolzenem Plastik. Es war genau dieser Geruch, weswegen man Kindern das Anzünden von Plastik verbat. Es war einfach dieser ungesunde Gestank. Sofort schaute ich mir die Gesichter der Arbeiter an. Ich suchte nach deren Atem-Maske.

Es musste doch irgend etwas kaputt sein, wenn man Menschen diesem gesundheitsgefährdenden Gestank aussetzte. Doch keiner der hier arbeitenden Menschen machte irgendwelche Anstalten, dass ihn dieser Gestank störte.

Dann bemerkte ich diese Hitze. Es war knalle heiß. Kein Wunder, die Maschinen arbeiteten mit hohem Druck und eben Hitze, um das Plastik-Granulat in Form zu pressen. Das Pressen war eben auch ein Schmelzen. Dabei entwickelte sich eben auch dieser Gestank.

Meine ersten Tage verbrachte ich damit, orangene Plastik-Teile für Freischneider einer deutschen Traditionsfirma zu entgraten. Hierzu schnitzte ich die scharfkantigen Stellen an eigentlich den immer gleichen fünf Stellen weg. Dazu wurde ein scharfes Messer benutzt, mehr nicht. Handschuhe oder sonstige Schutzkleidung hätten einen nur in der Bewegung eingeschränkt. Ohne Handschuhe konnte man außerdem erfühlen, ob die scharfkantigen Stellen erfolgreich herausgeschnitten waren.

Wenn man diese einfältige Tätigkeit einige Tage macht, fühlt man sich ganz schön wichtig. Man möchte sich mit dem Betrieb identifizieren, doch dieser Betrieb schämt sich in der Öffentlichkeit dafür, dass er Menschen mit meinem Arbeitsverhältnis (also als Leiharbeiter) beschäftigt. Diese Ablehnung widerfährt einem dann eben auch beim Benutzen des Pausenraumes (man darf ihn nicht betreten!), und nicht zuletzt beim Umgang mit den werkseigenen Mitarbeitern. Da ich mich aber eh schon freiwillig immer auf die Seite der Schwächsten stelle, konnte ich mit dieser Ablehnung gut umgehen.

Ich lernte Kollegen kennen, die ihre beruflich ausweglose Situation mit THC-Konsum verschönerten oder betäubten. Ich war immer eingeladen, an dieser Verschönerung teilzunehmen. Diese Menschen waren oft ungeschliffene Rohdiamanten, was die Vision einer gerechteren Welt anging. Sie träumten von einem bedingungslosen Grundeinkommen, von Erfolg und Gleichberechtigung.

Die Vorgesetzten in der Firma waren genau das Gegenteil: sie waren desillusioniert und frustriert und genervt. Dabei spreche ich hier aber nicht von den Firmen-Chefs, sondern von den eher niederen Mitarbeitern, also jenen, denen die Aufsicht anvertraut wurde. Die Buchhaltung oder gar die wirklichen Chefs habe ich nie zu Gesicht bekommen.

Nach einigen Tagen Schnitzarbeit wurde ich ans Band gestellt. Am Band kamen die noch heißen Plastik-Teile an, die in Kartons gestapelt werden mussten. Diese Stapelarbeit wurde mir anvertraut. Weil unterschiedliche Teile gleichzeitig angeliefert wurden, musste ich mehrere Größen in verschieden Kartons einsortieren. Ich arbeitete schnell und gewissenhaft und fragte mich nach einigen Stunden, wie ich es schaffen konnte, auch mal auf die Toilette zu gehen. Keiner hatte mir verraten, wie das gehen soll. Irgendwie schien ich der Einzige, der für diese Arbeit eingeplant war und das Band lieferte mir ununterbrochen gnadenlos Teile, die einsortiert werden wollten.

Kurz bevor ich mich einnässte, ging ich ungefragt auf das WC.

Als ich zurück kam, war das Geschrei freilich groß. Wie konnte ich einfach meinen Arbeitsplatz verlassen? Ich machte es ihnen vor und zeigte es ihnen, wie das ging. Sie fauchten und speiten Feuer, wie die Drachen aus den Kindermärchen. Dabei war es eh schon so heiß.

Dann erfuhr ich, dass es für WC-Besuche eine Klingel gab. Wollte ich pinkeln gehen, drückte ich einfach diese Klingel und unmittelbar würde eine Ablösung kommen und ich könne austreten. Doch die Klingel hatte keinen Effekt auf meine stressige Situation am Band. Es störte sich keiner daran, ob ich nun klingelte, oder nicht.

Also ging ich ein zweites Mal unerlaubt auf die Toilette. Als ich von der Toilette zurück kam, kam wieder ein feuerspeiender Pseudo-Chef auf mich zu, der mich anfauchte. Ich erklärte ihm, dass ich brav geklingelt hätte, aber sich keine Sau darum scherte. Diesen Moment nutzte ich auch, um mich zu beschweren, dass diese angelieferten Teil bisweilen recht heiß waren. Endlich bekam ich Handschuhe.

Was war das nur für ein Betrieb, in welchem man sich um die Gesundheit der Angestellten wirklich keinerlei Gedanken machte.

Ich hatte das Gefühl, dass die Produktivität der Maschinen, die mir ihre Plastikteile über das Band zuwarfen, nach und nach erhöht wurde. Manchmal kam ich trotz gewissenhafter Arbeit nicht wirklich hinterher. Die Kollegen und Vorgesetzten meinten dann immer: „Ey, Du bist zu langsam!“ Ich entgegnete jedes Mal ruhig „Nein, ich bin immer richtig. Die Maschine ist zu schnell!“

Sie schauten mich verdutzt, böse und ungläubig an. Aber ich musste diesen Menschen tatsächlich erklären, dass der Mensch die Maschinen deswegen erfunden hat, damit die Arbeit der Menschen durch die Maschinen unterstützt wurde. Die Maschinen dienten dem Menschen, nicht der Mensch den Maschinen! Derartige Grundsätze waren scheinbar nicht in deren Welt angekommen.

Ich war wirklich verwundert, dass die Menschen hier die Funktion des Not-Aus-Knopfes nicht kannten. Wenn die Maschinen zuviel Arbeit für einen Menschen verursachten, so konnte man sie damit einfach ausschalten. Dieser Not-Aus-Knopf hatte noch weitere Vorteile: Das Einstellen der Maschinen, bis sie wieder funktionierten, benötigte für die werkseigenen Fachleute etwa eine dreiviertel Stunde. In dieser Zeit konnte ich endlich etwas trinken oder in Ruhe auf die Toilette gehen.

Die Ausfallzeit der Maschine interessierte mich nicht. Und der Arbeitsaufwand, um diese Maschine wieder in Gang zu bringen, interessierte mich genauso wenig, wie sich diese Firma für mein Wohl interessierte. Die Kollegen meinten, dass dieser Not-Aus-Knopf eher für Notfälle da sei, wenn bsw jemand in die Maschine fallen würde. Für mich war der Notfall aber bereits dann da, wenn ich auf die Toilette musste und scheinbar kein Kollege da war, der meine Arbeit für diese Zeit übernehmen konnte bzw übernehmen wollte.

Was ich nicht durfte war, einfach von dem Arbeitsplatz weglaufen um auf die Toilette zu gehen, oder etwas zu trinken, das hatte man mir ausgiebig erklärt. Wenn das Maschine Ausschalten auch nicht erlaubt war, dann hätte man besser meine Hinweise (das Klingeln), dass ich auf die Toilette muss, ernst genommen. Aber es gibt doch für jedes Problem immer mindestens zwei Lösungen…

Es war schön, dass ich damit eine bottom-up-Fortbildung betrieb, in welcher ich versuchte, meinen Pseudo-Vorgesetzten noch etwas beizubringen. Leider ist mir dies nicht wirklich gelungen: Sie waren geradezu Lernresistent. Meine Bewertung für sie fiel negativ aus.

Erst einige Jahre später sah ich den brillanten Charlie Chaplin-Streifen Modern Times – Moderne Zeiten, welchen ich wirklich allen Menschen hiermit nahe legen will! Dieser Streifen ist so gut, dass mir die Tränen über das Gesicht rollten und ich den emotionalsten Lachkrampf meines Lebens hatte. Bitte schaut ihn euch an!

Nach ca zwei Wochen wurde ich von der Arbeit im Plastik-Spritzguss-Unternehmen befreit. Ich durfte Übersee-Container ausladen. Wer sich erinnert, wie schwer manche Kisten bei einem Umzug sind, weiß, wie anstrengend Kisten stapeln sein kann. Einen Übersee-Container ausladen ist meist so ein roter Container, der wirklich bis aufs letzte Luftloch mit Kartons gefüllt ist.

Ein Gabelstapler-Fahrer stellt einem hierzu einen Stapel Euro-Paletten hin und man stapelt dann die ganzen Kartons auf diese Paletten. Wenn die Paletten voll sind, kommt der Gabelstapler-Fahrer und lagert sie ein. Ich stapelte und stapelte.

Es waren Stiele für Kehrbesen oder Schaufeln, mir auch egal. Aber diese Kisten waren schwer. Obwohl sich das Gewicht nicht veränderte, wurden diese Kisten immer schwerer und schwerer. Ich stapelte bestimmt 20 Euro-Paletten voll mit diesen Kartons und war schockiert, wie groß diese blöden Übersee-Container wirklich waren.

Ich stapelte mit einem Studenten aus Afrika. Er war 10 Jahre jünger und zehn Jahre fitter, als ich. Nach 4 oder 5 harten Stunden Kartons stapeln waren wir endlich fertig. Und kräftemäßig FERTIG war ich auch. Ich torkelte zu meinem Honda SH125i-Roller und fuhr heim. Zuhause duschte ich und fiel ins Bett und schlief einen komatösen Schlaf.

Geweckt wurde ich von meinem Sklaventreiber aus der Zeitarbeits-Firma. Er rief mich an und fragte, wo ich denn wäre. Ich meinte ZUHAUSE. Er fragte, wieso ich mich nicht gemeldet hätte, als ich mit dem Ausladen des Containers fertig gewesen wäre. Er hätte noch einen weiteren Einsatzort für mich gehabt.

Ich musste nur lachen, weil ich wirklich erledigt war. Ich war erschlagen.

Es ist grotesk zu sehen, wie wenig Empathie so ein Büro-Hengst mit einem hart arbeitenden Menschen hat. Wir haben es wirklich krachen lassen. Ich habe mir sagen lassen, dass manche so einen Container auf zwei Tage verteilt ausladen würden. Bei dem Stundenlohn kann ich das auch verstehen.

Leider kann ich nicht auf halber Kraft arbeiten. Entweder ganz oder garnicht.

Was Zeitarbeit betrifft, so kann ich nur JEDEM davon ABRATEN. Eine berufliche Tätigkeit soll einen ja irgendwie ausfüllen. Man soll stolz auf seine Tätigkeit sein. Man soll sich damit identifizieren. Wenn sich Deine Firma aber dafür schämt, dass sie Dich beschäftigt und Du dazu einen Lohn bekommst, der jeglicher Menschenwürde spottet, dann macht diese Arbeit nicht glücklich.

So eine Arbeit macht krank!


Da das Fotografieren in jener Firma verboten war, möchte ich hier den Hinweis geben, dass dieses Bild mit KI (künstlicher Intelligenz) kreiert wurde und nur ein Beispielfoto ist, wie diese Plastik-Deckel ausgesehen haben könnten.